Produktoptimierung von Sportrollstühlen mittels Datenanalyse
Autor: Thomas Brendel, R&D-Entwicklungsingenieur bei Otto Bock Mobility Solutions
Der nachfolgende Bericht wurde in der Zeitschrift Medizin+Elektronik, März 2017, publiziert.
Um fundierte Erkenntnisse über die Nutzungsintensität eines auf den Golfsport ausgerichteten Elektrorollstuhls zu erhalten, zeichneten Entwicklungsingenieure der Otto Bock Mobility Solutions GmbH über mehrere Wochen hinweg mittels MSR Datenloggern das Nutzungsverhalten von Rollstuhlfahrern auf.
Mobilität ist Lebensqualität – diesem Leitgedanken folgt die deutsche Otto Bock HealthCare GmbH seit jeher. Mit den vier Geschäftsbereichen Prothetik, Orthetik, Mobility Solutions sowie MedicalCare ist das 1919 gegründete Medizintechnikunternehmen in der Lage, beeinträchtigten Menschen eine breite Produktpalette und umfangreiche Dienstleistungen für ein unabhängigeres und selbstbestimmtes Leben anzubieten. Die Otto Bock HealthCare GmbH mit Hauptsitz in Duderstadt beschäftigt weltweit über 6000 Mitarbeiter. Im Geschäftsbereich Mobility Solutions entwickeln die Ingenieure von Otto Bock technische Hilfsmittel für die Rehabilitation. Dies können Reha-Produkte wie Stehhilfen und Sitzsysteme sein, aber auch manuelle und elektrische Rollstühle für die unterschiedlichsten Anforderungen und Bedürfnisse. Vom robusten, flexiblen Faltrahmenrollstuhl bis zum elektrischen High-Tech-Gerät mit ausgeklügelten Steuerungsfunktionen müssen Rollstühle höchsten Ansprüchen in Sachen Technik, Funktionalität, individueller Anpassung, Robustheit und Design genügen.
Das konsequente Weiterentwickeln der Produkte mit genauer Orientierung am aktuellen Kundenbedarf ist von zentraler Bedeutung für den Erfolg des Unternehmens. Derzeit steht der Sportrollstuhl ParaGolfer im Fokus der Optimierungsbemühungen – ein Erfolgsmodell der Firma. Der gezielt auf den Golfsport ausgerichtete Elektrorollstuhl besitzt eine Aufstehhilfe und ist so konstruiert, dass sein Benutzer trotz Gehbehinderung einen sicheren Stand für den Abschlag hat. Der einstellbare Sitz hilft dem Golfspieler, sich optimal zum Ball zu positionieren. Gleichzeitig wird die dreirädrige Antriebskonfiguration den speziellen Anforderungen nach Geländegängigkeit auf dem Golfplatz gerecht.
Datenlogger helfen, Schwachstellen zu identifizieren
Um ein Produkt verbessern zu können, muss man zunächst mögliche Schwachstellen identifizieren und deren Auswirkungen analysieren. Daher haben die Ingenieure von Otto Bock verschiedene Datenlogger eingesetzt, um fundierte Erkenntnisse über die Produktnutzung des ParaGolfers zu gewinnen. MSR ist spezialisiert auf die Entwicklung miniaturisierter Datenlogger und hat sich besonders auf dem Gebiet der modularen Messtechnik einen Namen gemacht. Mit ausgefeilter Sensorik und Prozessortechnik zeichnen die kompakten, autonomen MSR-Datenlogger über lange Zeiträume hinweg die unterschiedlichsten physikalischen Umgebungs-Parameter auf.
Beim Golfsport-Elektrorollstuhl von Otto Bock haben die Ingenieure mit Datenloggern des Typs MSR145 und MSR160 die Fragestellung untersucht, wie oft ein durchschnittlicher Spieler bei Bewältigung einer 18-Loch- Golfanlage die elektrische Sitz-Aufstehverstellung verwendet und welche Gesamt-Zyklenzahl anzusetzen ist, um die einwandfreie Funktion über die Produktlebensdauer hinweg zu gewährleisten. Dazu haben die Datenlogger die Parameter Reichweite, Geschwindigkeit, Häufigkeit der Aufstehzyklen, Stromverbrauch und Temperaturentwicklung erfasst. Ziel war es, nach der Auswertung der Daten die funktionellen Komponenten des ParaGolfers genau so auslegen zu können, dass sie die typischen Anforderungen der Kunden zuverlässig erfüllen.
Objektive Messwerte sorgen für Klarheit
In einem Feldtest wurden die Golf-Rollstühle mehrerer Anwender mit MSR Datenloggern ausgerüstet und das mechanisch-elektrische Verhalten über mehrere Wochen hinweg lückenlos aufgezeichnet. Ausgestattet waren die Datenlogger mit einem internen 3-Achsen-Beschleunigungssensor (±15 g). An den vier analogen Eingängen angeschlossene Sensoren haben zudem Strom, Spannung, Geschwindigkeit und Temperatur erfasst. Die Speicherkapazität der Mini-Datenlogger beträgt standardmäßig zwei Millionen Messwerte. Diese Kapazität lässt sich per microSD-Karte vergrößern. So konnten die Ingenieure schließlich über 1 Milliarde Messwerte erfassen. Über die USB-Schnittstelle war die Versorgung des jeweiligen Datenloggers aus den Batterien des Rollstuhls sichergestellt. Das Signal der Y-Achse des internen Beschleunigungssensors wurde mit einer Messrate von 1 Hz gespeichert und nachfolgend ausgewertet. Eine spezielle Software zählte die Aufsteh-Ereignisse als Winkeländerung über die Zeit, sobald diese einen vorgegebenen Grenzwert überschritten. Über mehrere Wochen hinweg zeichnete der MSR160-Datenlogger zudem die Messwerte von Strom, Spannung, Geschwindigkeit und Temperatur mit einer Frequenz von 16 Hz auf. Das durchgängige Erfassen von 16 Messungen pro Sekunde häufte eine sehr hohe Datenmenge an. Die Speicherkarten mussten daher recht häufig ausgelesen werden. Prinzipiell lässt sich die Menge der erfassten Messwerte durch das Setzen von Grenzwerten reduzieren. Die Ingenieure entschieden sich jedoch dafür, zunächst alle Werte zu erfassen und später in der Analyse die relevanten Datenbereiche zu extrahieren. So konnten sie sicher gehen, alle interessanten Ereignisse bewerten zu können.
LabVIEW hilft bei der Auswertung
Auf Basis der grafischen Programmierumgebung LabVIEW (Laboratory Virtual Instrumentation Engineering Workbench) von National Instruments entwickelten die Otto-Bock-Ingenieure eine auf den Anwendungsfall abgestimmte Analysesoftware. Diese untersucht unter anderem die über die Zeit erfassten Messwerte der Beschleunigungssensoren. Sie errechnet den jeweiligen Sitzwinkel in Grad gegenüber der Horizontalen und erkennt Ereignisse, die einen Schwellwert von 20° über- beziehungsweise unterschreiten. Diese Events markiert das Programm in den Diagrammen grün, so dass sie sich unabhängig vom Zoomfaktor einwandfrei erkennen lassen.